Automatisierung

„Wir waren unserer Zeit weit voraus“

Im Interview: Prof. Dr. Michael Feindt über einen einfachen Algorithmus, mit dem komplexe Lieferketten optimiert werden können

26.11.2021 - Prof. Dr. Michael Feindt (63) gründete 2002 ein Unternehmen, um ­seinen selbst entwickelten Neurobayes-Algorithmus zu professionali­sieren. Daraus entstand 2008 die Firma Blue Yonder, die inzwischen weltweit mehr als 5.000 Mitarbeitende beschäftigt. Nun wurde Feindt als Traton Logistics Leader o f the Year 2021 ausgezeichnet.

Michael Feindt
Prof. Dr. Michael Feindt (63) wurde als Traton Logistics Leader o f the Year 2021 ausgezeichnet.

 

Sie sind Physiker und wurden nun für Logistik ausgezeichnet.
Wie passt das zusammen?

Michael Feindt: Wenn man die Vorgeschichte kennt, passt das gut zusammen: Ich habe 1993 mein erstes neuronales Netz trainiert und mich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, um damit Experimente am CERN auszuwerten. Später habe ich einen Algorithmus geschrieben, der ganze Wahrscheinlichkeitsverteilungen vorhersagen kann, anfangs war es die Energie eines b-Quarks. Damit lassen sich aber auch andere Dinge prognostizieren.

Nämlich?

Michael Feindt: Beispielsweise der Abverkauf eines bestimmten Artikels in einem Supermarkt an einem Tag. Auf dieser Basis kann man optimal Entscheidungen treffen, damit jeder Artikel immer genau in der benötigten Anzahl vorrätig ist. Auf dieser Idee basierte 2002 die Gründung der Firma Phi-T. Dort haben wir den Algorithmus für den Handel angewendet, für Versicherungen oder das Finanzwesen.

Später ging die Firma in Blue Yonder über…

Michael Feindt: Genau, die habe ich zusammen mit Managern des Otto-Konzerns gegründet. 2018 hat der Supply-Chain-Spezialist JDA Software das Unternehmen gekauft. Seit 2020 firmiert die Firma unter Blue Yonder. Hauptthema ist die Planung und Automatisierung von der Fertigung zum weltweiten Vertrieb von Gütern.

Was ist das Ziel dabei?

Michael Feindt: Diese Planung möchten wir in die Breite optimieren, also auch firmenübergreifend, damit jeder Kunde im Laden genau das bekommt, was er kaufen möchte. Aber bei frischer oder saisonaler Ware sollte natürlich nichts übrig bleiben. Das wäre finanziell und ethisch schlecht, da wir keine Lebensmittel oder Textilberge vernichten möchten.

Wie kamen Sie damals darauf, dass Ihr Algorithmus nicht nur für die Physik wichtig ist, sondern auch für die Produktplanung im Supermarkt?

Michael Feindt: Zugegebenermaßen habe ich mich damals tatsächlich nur für Physik interessiert – aus heutiger Sicht war das falsch. Denn wenn man sich auch für andere Gebiete interessiert, erkennt man, dass die eigene Arbeit auch dort nützlich sein kann. Mit der richtigen Transferleistung lassen sich riesige Werte schaffen! Mir half der Zufall: Beim Aktienhandel habe ich einiges Geld verloren und mich hinterher geärgert, dass ich auf die Bankberater gehört habe, obwohl ich mich seit Jahren selbst mit statistischen Analysen beschäftigt habe.

Und dann haben Sie mit Ihrem Algorithmus den Aktienmarkt modelliert?

Michael Feindt: Ich habe mir die Finanzdaten für den Aktienmarkt besorgt und mein Programm mit diesen Daten trainiert, um die Aktienkurse vorherzusagen. Dadurch kam die Idee, zusammen mit zwei Studenten eine Firma zu gründen, um diesem Ansatz weiter nachzugehen. Im Nachhinein betrachtet die beste Entscheidung überhaupt.

War die Firma von Anfang an erfolgreich?

Michael Feindt: Der Start war schwierig, da wir nur aus laufenden Einkünften gelebt haben. Entscheidend für den Erfolg war unter anderem eine gute Personalpolitik: Anfangs waren wir nur Physiker, was hilfreich war, um die Probleme analytisch zu lösen. Aber wir waren natürlich nicht gut in PR und im Verkauf. Dafür haben wir später Experten eingestellt. Heute sind über 3.000 Firmen, darunter sieben der zehn größten Handelsfirmen der Welt, unsere Kunden.

Sie haben schon sehr früh künstliche Intelligenz eingesetzt.

Michael Feindt: Wir waren unserer Zeit weit voraus. Heute spricht jeder von künstlicher Intelligenz, datengetriebener Software oder Automatisierung. Damals waren wir alleine auf diesem Gebiet unterwegs.

Sie sind lange Zeit zweigleisig gefahren und haben zusätzlich als Professor am KIT gearbeitet…

Michael Feindt: Das hat sich beides gegenseitig befruchtet. Ich hatte meine Gruppe in Karlsruhe sehr gut organisiert und hervorragende Leute. Wichtig war mir immer, dass keiner für sich arbeitet, sondern dass die Leute ihr Wissen weitergegeben und als Gruppe zusammenarbeiten. Dadurch konnte ich verantwortungsvolle Aufgaben abgeben – am KIT, aber auch in der Firma.

Sie waren also mehr der Ideengeber?

Michael Feindt: Genau. Ich habe Impulse gegeben und meine Leute machen lassen. Das Wissen sollte nicht nur auf meinen Schultern lasten, sondern in die Breite gehen. Wissen wird ja nicht weniger, wenn man es teilt. Ich wollte immer eine Kultur schaffen, in der alle zusammen an einem gemeinsamen Ziel arbeiten und jeder an seinen Aufgaben wachsen kann. Das halte ich für ein extrem wichtiges Erfolgsrezept. Wenn man alles immer nur selbst macht, kommt man nicht weit.

Der Preis ehrt Unternehmer, die in der Logistikbranche einen richtungsweisenden Impuls gesetzt haben. Was war das in Ihrem Fall?

Michael Feindt: Die Idee, datengetrieben zu denken, also nicht nur aus dem Bauchgefühl heraus zu entscheiden, sondern objektive Daten als Basis zu nehmen, damit gute Prognosen zu machen und schließlich optimale Entscheidungen treffen und automatisieren. Effizienter geht das, wenn Handelspartner entlang der Supply Chain zusammenarbeiten und möglichst viele Informationen und Pläne verfügbar machen. Das war speziell zu Corona-Zeiten extrem wichtig, weil sich die Dinge so schnell massiv geändert haben.

Zum Beispiel die Klopapier-Hamsterkäufe.

Michael Feindt: Richtig. Die meisten unserer Kunden haben die automatischen Systeme abgeschaltet und versucht, per Hand zu steuern. Aber der Mensch ist völlig überfordert damit, so komplexe Logistikprozesse zu steuern. Unser System hat sich dagegen sehr schnell an die neue Situation angepasst, weil unser System selbstlernend aufgebaut ist. Unsere Vision ist es, die ganze Kette von Herstellung, Planung, Fabrikation über Verteilung bis in das Regal zu optimieren, in der Breite. Insofern passt es, dass der Preis nun aus der Logistikbranche kommt.

Sie haben einen einfachen Algorithmus ­entwickelt, um komplexe Lieferketten zu optimieren. Wie sind Sie das angegangen?

Michael Feindt: Zunächst ging es um einfache Prognosen für den Handel: Wie viel von jedem einzelnen Artikel wird voraussichtlich morgen, übermorgen oder in den nächsten 14 Tagen verkauft? Zudem kommen die Eigenschaften eines Artikels ins Spiel wie seine Haltbarkeit oder ob es ein Saisonartikel ist wie Grillkohle. Wir berücksichtigen zudem äußere Faktoren wie Sonderangebote oder das Wetter. Solche Vorhersagen machen wir jeden Tag für zehntausende Artikel in hunderten von Filialen. Das sind Millionen von Prognosen und Entscheidungen – das kann der Mensch nicht selbst machen.

Hier kommt Ihr Algorithmus ins Spiel.

Michael Feindt: Richtig, wir prognostizieren den Willen der Kunden – auf Basis möglichst vieler Daten – und damit Erfahrungen – der Händler. Inzwischen steckt eine Menge Branchen-Know-how in unserem Algorithmus drin.

Was ist heute Ihre Aufgabe als strategischer Berater bei Blue Yonder?

Michael Feindt: Das sind vor allem zwei Dinge: Das eine sind Interviews wie dieses oder Vorträge auf Konferenzen, wo ich unsere Arbeit vorstelle und etwas über Künstliche Intelligenz erzähle. Auf der anderen Seite überlege ich mir, wie wir unsere Algorithmen noch weiterentwickeln und verbessern können. Ich verfolge auch genau die Entwicklungen im Quantencomputing, um zu sehen, ob das eines Tages für uns hilfreich sein könnte.

Wo sehen Sie sich und Ihre Firma in fünf Jahren?

Michael Feindt: Als Panasonic das Unternehmen gekauft hat, hatte es eine Marktbewertung von 8,5 Milliarden Dollar. Das hat mich sehr stolz gemacht. Panasonic bietet nun die Möglichkeit, unsere Algorithmen mit deren Expertise in Kameras und Sensorik zu verbinden.

Wie das?

Michael Feindt: Da geht es darum, die Ladenregale mittels Sensorik zu überwachen, also beispielsweise das Gewicht zu messen und daraus zu schließen, wie viel Ware noch vorhanden ist. Das würde uns viel bessere Daten liefern. Da sehen wir noch gigantisches Potenzial, weil längst noch nicht alles optimiert und automatisiert ist. Ich selbst möchte dieses Thema gerne weiter vorantreiben und auch mein Wissen in Vorlesungen oder Vorträgen weitergeben. Zur Ruhe setzen will ich mich noch nicht.

Mit Michael Feindt sprach Maike Pfalz, Chefredakteurin des Physik Journals, Wiley-VCH

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